«Hören zu können bewirkt, dass ich mich lebendig fühle»
Inmitten einer Gruppe von Sambatrommlern tanzt selbstvergessen eine junge Frau in cremefarbenen Shorts. Die brasilianischen Rhythmen zaubern ihr ein strahlendes Lächeln ins Gesicht. Natália Martins liebt den Samba. Ohne Hörgeräte wäre der mitreissende Rhythmus allerdings nur ein fernes Rauschen für sie. Natália ist vier, als ein Arzt 70 Prozent Hörverlust bei ihr diagnostiziert. Mit sechs Jahren trägt die Kleine ihr erstes Hörgerät – und versucht gut darauf aufzupassen. «Schon damals habe ich gespürt, dass die Welt aus Dunkelheit besteht, wenn ich nicht hören kann», erklärt sie. Jahre später verliert sie trotz aller Vorsicht eines der Geräte und wartet bis zum Ersatz ein langes Jahr. Während dieser Zeit muss sie in der Schule ständig in der ersten Reihe sitzen, um den Mund der Lehrerin im Blick zu haben und ihr von den Lippen abzulesen. Auch ihr Gleichgewichtssinn ist in dieser Zeit beeinträchtigt.
Natálias Mutter will ihrer Tochter auch mit Hörverlust ein selbstständiges Leben ermöglichen. Sie schickt ihr Kind in eine normale Schule, und fördert dessen Begabung für Sport. Als Natália mit elf Jahren fast 1,80 Meter gross ist, rät ihre Gymnastiklehrerin: «Du solltest es mit Volleyball versuchen!» Daraufhin verändert sich das Leben der hochgewachsenen Jugendlichen für immer. Sie merkt schnell, dass sie den Sport zum Beruf machen möchte. Das nötige Talent hat sie. Aber kann sie es mit ihrer Hörminderung schaffen? Eines Tages fasst sie sich ein Herz und stellt ihrem Vorbild Bernardo Rocha de Rezende, Brasiliens grösstem Volleyballtrainer aller Zeiten, über seine Website ihre brennende Frage: «Ich möchte erreichen, was du erreicht hast. Aber ich habe eine Hörminderung – gibt es für mich trotzdem eine Chance?» Ein Klick, die Frage ist abgeschickt. Und es kommt tatsächlich eine Antwort. «Du brauchst Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen und Kraft – damit kannst du alles erreichen», schreibt ihr der Profi. Natália fühlt sich beflügelt. Sie wird die erste Profi-Volleyballerin mit Hörminderung in Brasilien. Aus einer Provinzmannschaft schafft sie den Aufstieg bis in die Super League und die Nationalmannschaft Brasiliens. Den Rat ihres grossen Vorbilds will sie ihr Leben lang befolgen.
Beim Training und auf dem Platz helfen ihr die immer wieder verbesserten Hörgeräte, die einzelne Geräusche deutlicher voneinander trennen. Natália lernt bislang unbekannte Laute und Klänge kennen. «Es war für mich wie ein Wunder, als ich plötzlich die Texte der Lieder verstehen konnte, die unsere Fans vom Verein Osasco sangen – sie waren für mich vorher nur Melodien gewesen», erzählt sie begeistert. Über solche neuen Hörerfahrungen freut sich die erwachsene Frau wie ein Kind. Manche Kolleginnen behaupten scherzhaft, sie schalte die Hörgeräte beim Training absichtlich aus, um die Kritik des Trainers nicht zu hören. «Das mache ich längst nicht mehr!», wehrt Natália lachend ab.
Die hochgewachsene junge Frau liebt ihren Beruf. Bei Kolleginnen ist sie wegen ihrer humorvollen Art und ihrer Hilfsbereitschaft beliebt. Alles scheint leichter in ihrer Gegenwart, denn Natália hat ein immenses Talent zum Glücklich-Sein. Sie liebt die Stille vor dem Spiel in der Umkleide, wenn sie sich konzentriert und Adrenalin in ihren Körper schiesst, bis sie Gänsehaut bekommt. Der tosende Jubel der Fans ist eines ihrer absoluten Lieblingsgeräusche. Ihre Hörgeräte sind längst zum Teil ihres Körpers geworden. Sie setzt sie morgens nach dem Aufstehen ein und nimmt sie erst vor dem Schlafengehen wieder heraus. Unter ihren kinnlangen Locken sind die Phonak NaídaTM Hörgeräte für die Aussenwelt unsichtbar, aber wenn sie sie einschaltet, ist es, als lasse sie die Welt in ihr Leben. Erst konnte sie mit ihren Hörgeräten nicht telefonieren, weil es dabei zu viel Echolaute gab, aber die stetig voranschreitende technische Entwicklung der Geräte löste das Problem. Wenn sie auf Menschen trifft, die Vorbehalte haben, sich für ein Hörgerät zu entscheiden, fragt sie nach: «Warum trägst du kein Hörgerät? Es macht dein Leben lebenswerter und bewirkt, dass Du Dich lebendig fühlst.»
Rückhalt findet die Frau mit der positiven Ausstrahlung und dem enormen Durchhaltevermögen weiterhin bei ihrer Mutter – und bei ihrem Ehemann. Den zwei Meter grossen Peterson Henrique hat sie mit Mitte zwanzig kennen gelernt und 2012 geheiratet. Der 40-jährige selbstständige Geschäftsmann begleitet sie, wohin die Karriere sie führt, erst nach Brasilia, dann nach Osasco bei São Paulo und jetzt nach Europa. Ein bisschen mulmig ist es «Nati», wie die Fans sie nennen, schon bei dem Gedanken, jetzt Familie und Freunde hinter sich zu lassen. Aber sie ist kein Mensch, der sich lange mit trüben Gedanken aufhält: «Ich nehme meinen Mut zusammen und freue mich auf die neuen Herausforderungen!» Vor der Abreise fährt sie mit Peterson nach Rio de Janeiro: Abschied nehmen von Freunden, von vertrauten Geräuschen. Abschied von Brasilien. Sie spazieren durch das lärmende Künstlerviertel Santa Teresa, wo Natália vom Fahrtgeräusch der vertrauten alten Strassenbahn bis zu den scherzhaften Unterhaltungen auf dem Markt in dem melodischen Portugiesisch Brasiliens jedes Geräusch in sich aufsaugt. Natália lauscht den Wellen am Strand von Copacabana und geniesst die Aussicht auf Rio vom Hügel Morro da Babilônia. Als sie wieder herabsteigt, wird sie von mehr als drei Dutzend Sambatrommlern erwartet. Die Mitglieder der Batucada Abençoada, die es als grösste Sambagruppe der Welt ins Guinness Buch geschafft hat, bringen ihr ein Abschiedsständchen. Ihr Ehemann hat diese Überraschung für sie organisiert. Natália lauscht gebannt und lässt sich vom Rhythmus mitreissen. Temperamentvoll tanzt sie inmitten der Trommler, dreht sich um sich selbst und zeigt dem Leben ihr strahlendes Lächeln.