Zugang zu audiologischer Versorgung

Phuong hört die Regentropfen

In Vietnam sind Cochlea-Implantate für viele Familien unbezahlbar. Deshalb unterstützt die Hear the World Foundation weltweit Projekte zugunsten von bedürftigen Menschen mit Hörverlust. Der Förderfokus liegt dabei auf Projekten für Kinder, um ihnen eine altersgerechte Entwicklung zu ermöglichen. Die dreijährige Phuong erhielt ein Cochlea-Implantat, mit dem sie wieder hören kann. Damit beginnt für sie ein neues Leben.

Für ihren Termin in Ho-Chi-Minh-Stadt machen sich Phuong und ihre Eltern bereits kurz nach Sonnenaufgang auf den Weg. Auf ihrem Moped fahren sie zu dritt die 60-Kilometer-Strecke von ihrem Heimatort in die südvietnamesische Metropole – ein Auto kann sich die junge Familie nicht leisten. Die Fahrt dauert zwei Stunden. Im Morgenverkehr bahnen sich Fahrzeuge mit schrillem Hupen den Weg durch die Stadt. Von den Tönen, mit denen die Stadt den Tag beginnt, bekommt Phuong wenig mit. Das drei Jahre alte Kind leidet unter Hörverlust. Bei hohen Frequenzen hilft ihr nicht einmal ihr Hörgerät.

An diesem Tag aber wird sich das Leben des Mädchens grundlegend ändern. Phuong und ihre Eltern sind auf dem Weg in ein audiologisches Fachgeschäft der Sonova Marke Connect Hearing, wo für sie ein neues Leben beginnen wird.

Phuong ist Teilnehmerin des Hilfsprogramms «CI Vietnam». Mit der Initiative unterstützt die Hear the World Foundation zusammen mit der Global Foundation for Children with Hearing Loss Kinder mit Hörverlust, die auf aufwändige Technik angewiesen sind. Zehn Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen wurden in Vietnam dafür ausgewählt. Sie erhalten ein Cochlea-Implantat, das über Elektroden in der Hörschnecke Signale an den Hörnerv leitet. «Die Kinder können damit sprechen lernen und am Unterricht an einer Regelschule teilnehmen», sagt Elena Torresani, Director Hear the World Foundation. «Unser Ziel ist es, dass sie ohne Einschränkungen leben und so aufwachsen können wie alle anderen Kinder.»

Eine Stunde zu früh kommen Phuong und ihre Eltern in dem audiologischen Fachgeschäft an. Das Mädchen trägt Sandalen, einen karierten Rock und ein weisses Hemd. Ihre Haare sind nur ein paar Millimeter lang. Sie wurden für die Operation, bei der das Implantat eingesetzt wurde, kurz geschoren. Etwas mehr als einen Monat später soll das System nun aktiviert werden. «Ich bin aufgeregt und glücklich, dass dieser Tag endlich gekommen ist», sagt Phuongs Mutter Mai.

Das Mädchen ist das zweite Kind der 33-Jährigen. Auch ihre ältere Tochter wurde mit starkem Hörverlust geboren. «Ich war traurig und geschockt, als ich erfahren habe, dass Phuong dasselbe Problem hat», erzählt Mai. Sie und ihr Mann Tien stammen aus einfachen Verhältnissen im Norden Vietnams. In der Hoffnung auf bessere Einkommen zogen sie in den Süden, wo ein grosser Teil der vietnamesischen Industrie beheimatet ist. Mai hat einen Job in einer Textilfabrik gefunden. Tien arbeitet auf Baustellen. Gemeinsam verdienen sie umgerechnet rund 500 Dollar im Monat. Die Hörgeräte ihrer beiden Töchter kosteten jeweils mehrere Monatseinkommen. «Ein Vermögen», sagt Mai. Die Familie war auf Kredite und die Hilfe von Freunden und Verwandten angewiesen – eine staatliche Krankenversicherung, die in dem Fall einspringen würde, gibt es in Vietnam nicht.

Doch Phuong hörte trotz Hörgerät immer schlechter. Ein Cochlea-Implantat kam wegen der Kosten für die Familie aber lange nicht in Frage. Das änderte sich erst, als Mai über die Sonderschule ihrer Tochter vom Projekt der Hear the World Foundation und der Global Foundation for Children with Hearing Loss erfuhr. «Ich habe ihnen sofort einen Brief geschrieben», erzählt sie. «Als ich dann ein paar Monate später erfuhr, dass wir akzeptiert wurden, habe ich geweint vor Glück.»

Für den Tag der Aktivierung haben sich Mai und Tien beide freigenommen. In dem Fachgeschäft nehmen sie zusammen mit ihrer Tochter in einem schallisolierten Raum an einem Kindertisch Platz. Phuong bemerkt zwischen den Spielsachen eine gelbe Plastikente. «Ente, Ente», ruft sie. Ihre Aussprache ist angesichts ihrer Hörminderung ungewöhnlich gut. Das hat sie indirekt ihrer älteren Schwester zu verdanken: Weil die Eltern bereits wussten, an wen sie sich wenden können, erhielt Phuong früh gezieltes Sprachtraining in einer spezialisierten Schule.

Eine Spezialistin sitzt Phuong und ihren Eltern auch im Fachgeschäft gegenüber. Nguyen Thi Thien Huong ist Audiologin. Die Vietnamesin hat in den USA studiert und kehrte in ihre Heimat zurück, um ihren Landsleuten mit Hörverlust eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ihre Expertise ist in dem Land rar, eine universitäre Ausbildung zum Audiologen gibt es nicht. Seit Ende 2012 arbeitet Nguyen bei Sonova und engagiert sich im Projekt der Hear the World Foundation als freiwillige Helferin.

Phuong kann dank dem Cochlea-Implantat wieder hören

Nguyen verbindet Phuongs Cochlea-Implantat über ein Kabel mit ihrem Computer. Sie testet, ob das Gerät funktioniert, und programmiert an ihrem Bildschirm ein individuell angepasstes Hörprofil. Phuong bekommt davon noch nichts mit. Sie spielt mit der Ente und bunten Plastikreifen. Um das Cochlea-Implantat zu aktivieren, das Phuong wieder hören lassen soll, reicht ein Klick in Nguyens Software. Kurz bevor es so weit ist, gibt Nguyen den Eltern ein kurzes Zeichen. Sie wissen nicht, wie ihre Tochter auf die Veränderung reagieren wird. Manche Kinder weinen, andere strahlen vor Glück, wenn sie die Stimmen ihrer Eltern hören. Nguyen klickt. Und Phuong blickt kurz zur Seite. Einen Moment wirkt es so, als würde sie darüber nachdenken, was da gerade passiert ist. Dann spielt sie weiter, als wäre nichts.

Eine möglichst neutrale Reaktion sei ihr Ziel bei der Aktivierung, erklärt Audiologin Nguyen. Anfangs stelle sie das Cochlea-Implantat leise ein, um den Kindern Zeit zu geben, sich daran zu gewöhnen. Nun bittet sie Phuong zum Test: Das Mädchen soll sich die Plastikringe ans Ohr halten – und die Ringe jedes Mal, wenn ein bestimmtes Geräusch ertönt, auf einen Stab stecken. Phuong hat damit keine Probleme. «Gut gemacht», lobt Nguyen das Mädchen nach jedem Mal. Phuong lächelt, ihr Vater und ihre Mutter auch. Am Ende der Tests hat Audiologin Nguyen gute Nachrichten: Das Cochlea-Implantat funktioniert noch besser als gedacht. Normalerweise hätte Nguyen deutliche Reaktionen erst ab 60 Dezibel erwartet. Phuong nahm aber bereits Töne mit einer Lautstärke von 40 Dezibel klar wahr. «Ich bin sehr zufrieden», sagt Nguyen.

Es regnet, als die Eltern das Hörzentrum verlassen, und die Tropfen trommeln auf den Regenschirm. Phuong blickt in den Himmel und freut sich. Sie kann den Regen nun hören.